»Oh, wie viel Zaub'rer, wie viel Zauberinnen
gibt's unter uns, von denen man nichts weiß!«
Ariosto: Orlando Furioso. Ges. VIII, I.
Wenn ich, verehrter Herr Sanitätsrat, Ihrem Wunsche nachkomme und die Seiten des Heftes, das Sie mir gegeben haben, ausfülle, so wollen Sie mir glauben, daß ich das nach reiflicher Überlegung und mit einer wohldurchdachten Absicht tue. Denn im Grunde genommen handelt es sich doch nur um einen Kampf zwischen uns beiden, Ihnen, dem leitenden Arzt dieser Privat-Irrenanstalt und mir, dem Patienten, der seit drei Tagen hier untergebracht ist. Die Anklage, wegen der ich hier gewaltsam untergebracht bin – entschuldigen Sie einem Studenten der Rechte, daß er mit Vorliebe juristische Phrasen wählt! –, wirft mir vor, daß ich » an der fixen Idee leide, ein Orangenbaum zu sein«. Nun, Herr Sanitätsrat, versuchen Sie den Beweis zu erbringen, daß das eine »Vorspiegelung falscher Tatsachen« sei – gelingt es Ihnen, mich von dieser Ihrer Meinung zu überzeugen, so bin ich ja »geheilt«, nicht wahr? Wenn Sie mir beweisen, daß ich ein Mensch sei wie alle anderen, daß ich lediglich infolge einer Fülle nervenzerrüttender Aufregungen von einer krankhaften Einbildung befallen sei wie viele Tausende von Kranken in allen Sanatorien der Welt, so haben Sie mit diesem Beweise zugleich mich den Lebenden wiedergegeben: Die »Nervenkrankheit« ist dann im Nu von Ihnen weggeblasen.
Auf der anderen Seite habe ich als Angeschuldigter das Recht, den Wahrheitsbeweis anzutreten. Es ist der Zweck dieser Zeilen, Sie, sehr geehrter Herr Sanitätsrat, von der Unanfechtbarkeit meiner Behauptungen zu überzeugen.
Sie sehen, daß ich ganz nüchtern denke, jedes Wort ruhig abwäge. Ich bedaure herzlich die Auftritte, die ich vorgestern machte; es betrübt mich sehr, daß ich durch mein albernes Gebaren den Frieden Ihres Hauses störte. Sie wollen das den vorangegangenen Aufregungen zugute halten, Sie wollen bedenken, daß, wenn man Sie, verehrter Herr Sanitätsrat, oder sonst einen gesunden Menschen plötzlich hinterlistig in ein Irrenhaus brächte, er auch nicht viel anders sich benehmen möchte. Unsere stundenlange Unterredung von gestern abend aber hat mich völlig beruhigt; ich sehe ein, daß meine Verwandten und Korpsbrüder lediglich mein Bestes wollten, als sie mich hierher brachten. Und nicht nur »wollten«; ich glaube, daß es wirklich so das Beste ist. – Denn wenn es mir gelingt, einen Psychiater von europäischem Rufe wie Sie, Herr Sanitätsrat, von der Richtigkeit meiner Aufstellungen zu überzeugen, so muß auch der größte Skeptiker sich vor dem sogenannten » Wunder« beugen.
Sie baten mich, in dies Heft einen möglichst ausführlichen Lebenslauf meiner Person zu schreiben, auch alle meine Gedanken über das, was Sie meine »fixe Idee« nennen. Ich verstehe sehr wohl, wenn Sie das auch nicht aussprachen, daß es sich für Sie, einen pflichttreuen Diener der Wissenschaft, darum handelt, aus dem »Munde des Kranken selbst ein möglichst getreues Krankheitsbild zu erhalten«. – Ich will bis aufs kleinste Ihren Wünschen nachkommen, in der bestimmten Voraussetzung, daß Sie, nachdem Sie Ihren Irrtum erkannt, auch mir bei meiner von Stunde zu Stunde realere Formen annehmenden Baumwerdung hilfreich Hand leisten werden.
Sie werden, Herr Sanitätsrat, beim Durchsehen meiner Papiere, die sich ja zur Zeit in Ihrem Gewahrsam befinden, bei meiner Meinung zu der juristischen Doktorprüfung ein eingehendes curriculum vitae finden, das alle äußeren Einzelheiten enthält. Ich kann mich daher hier sehr kurzfassen; Sie werden aus dem Schriftstück entnehmen, daß ich der Sohn eines rheinischen Industriellen bin, im achtzehnten Jahre mein Abiturientenexamen machte, mein Jahr als Einjähriger in einem Berliner Garderegiment abdiente, auf verschiedenen Universitäten als Student der Rechte meine Jugend genoß, dazwischen eine Reihe größerer und kleinerer Reisen machte und zuletzt in Bonn mich auf die Referendar – und Doktorprüfung vorbereitete.
Das alles hat für Sie, Herr Sanitätsrat, ebensowenig Interesse wie für mich. Die Geschichte, die uns angeht, beginnt erst am 22. Februar vergangenen Jahres. An diesem Tage lernte ich bei einem Faschingsball die auf die Gefahr hin, lächerlich zu scheinen, schreibe ich es nieder – Zauberin kennen, die mich in einen Orangenbaum verwandelte.
Es ist wohl nötig, einige Worte über die Dame zu sagen, der ich bei jenem Feste vorgestellt wurde. Frau Emy Steenhop war eine sehr auffallende Erscheinung, die alle Augen unwiderstehlich auf sich zog. Ich verzichte auf eine Beschreibung ihrer Reize; Sie möchten die Schilderung eines Verliebten vielleicht als starke Übertreibung belächeln. Doch ist es Tatsache, daß unter meinen Freunden und Bekannten nicht einer war, den sie nicht im Augenblick fesselte, der nicht glücklich war für jeden Blick, für jedes Wort, das sie an ihn richtete.
Frau Emy Steenhop bewohnte damals seit etwa zwei Monaten eine geräumige Gartenvilla in der Koblenzer Straße, die sie mit viel Geschmack hatte einrichten lassen. Sie führte ein offenes Haus, in dem allabendlich die Offiziere der Königshusaren und die Mitglieder der angesehensten Korps sich versammelten. Es ist richtig, daß keine Damen bei ihr verkehrten, doch bin ich überzeugt, daß das nur aus dem Grunde geschah, weil Frau Steenhop, wie sie häufig lachend erklärte, Weibergeschwätz für den Tod nicht ausstehen mochte. Ebensowenig verkehrte die Dame jemals in einer Bonner Familie.
Es ist begreiflich, daß der Klatsch der Kleinstadt sich sehr bald mit der auffallenden Fremden beschäftigte, die täglich ihren schneeweißen Mercedeswagen durch die Straßen steuerte. Bald gingen die abenteuerlichsten Gerüchte von Mund zu Mund über nächtliche Orgien in der Koblenzer Straße; das lokale Hetzblättchen brachte gar einen Aufsatz, der »Eine moderne Messalina« überschrieben war und in seinen Anfangsworten – »Quousque tandem« – jedenfalls die höhere Bildung des Schreibers dokumentieren sollte. Ich kann versichern – und bin überzeugt, daß alle die Herren, die jemals die Ehre hatten, von Frau Emy Steenhop empfangen zu werden, das gleiche tun werden –, daß niemals in ihrem Hause auch nur das Allergeringste vorkam, das gegen die strengste gesellschaftliche Form verstieß. Ein Handkuß – das war das einzige, was die Dame ihren Verehrern –, und zwar allen – gestattete; einzig der kleine Husarenoberst hatte das Vorrecht, seinen martialischen Schnurrbart auf den weißen Unterarm drücken zu dürfen. Frau Emy Steenhop hatte uns alle so am Fädchen, daß wir artig wie Pagen in fast ritterlich-romantischer Form unserer Herrin dienten.
Trotzdem geschah es, daß urplötzlich ihr Haus verödete. Ich war zu dem Geburtstage meiner Mutter am 16. Mai nach Hause gefahren; als ich zurückkehrte, hörte ich zu meinem Erstaunen, daß durch einen Befehl des Obersten den Offizieren seines Regiments der weitere Besuch in dem Hause der schönen Frau verboten sei. Die Korps waren sofort diesem Beispiel für ihre Angehörigen gefolgt. Ich fragte nach dem Grunde, meine Korpsbrüder teilten mir mit, daß für ihr Vorgehen lediglich der Regimentsbefehl maßgebend sei; es sei unmöglich, daß in einem vom Husarenregiment gemiedenen Hause Korpsstudenten verkehren könnten. In der Tat hatten in dieser Beziehung von jeher die beiden Korporationen aufeinander Rücksicht genommen, schon aus dem Grunde, weil alljährlich so viele Korpsangehörige bei den Husaren dienten oder dem Regiment als Reserveoffiziere angehörten.
Den Grund des Vorgehens des Obersten kenne man nicht, auch den Offizieren selber sei er unbekannt. Doch vermute man, daß er mit dem urplötzlichen Verschwinden des Leutnants Baron Bohlen zusammenhänge, für das man auch nicht die geringsten Gründe sich zusammenreimen könne.
Da mir Harry von Bohlen persönlich nahestand, so ging ich noch denselben Abend in das Husarenkasino, um vielleicht Einzelheiten zu erfahren. Der Oberst empfing mich sehr liebenswürdig, lud mich zu einem Glase Sekt ein, vermied es aber, auf die Angelegenheit zu sprechen zu kommen. Als ich ihm endlich offen meine Frage stellte, lehnte er höflich, aber sehr kurz ab, sie zu beantworten. Ich sagte:
»Herr Oberst! Ihre Anordnungen und die der Korps sind gewiß für Ihre Offiziere und die Korpsstudenten bindend. Für mich sind sie es nicht. Ich kann heute noch aus meiner Verbindung austreten und bin dann Herr meiner Handlungen.«
»Tun Sie, was Ihnen beliebt!« antwortete der Oberst nachlässig.
»Ich bitte Sie, mich einen Augenblick geduldig anzuhören«, fuhr ich fort. »Jedem andern mag es vielleicht nicht so schwerfallen, das Haus in der Koblenzer Straße zu missen. Er wird manchmal mit leisem Bedauern an die schönen Abende sich erinnern und sie schließlich vergessen. Ich aber ...«
Er unterbrach mich.
»Junger Mann«, rief er, »Sie sind der vierte, der mir diese Rede hält! Zwei meiner Leutnants und einer Ihrer Korpsbrüder waren schon vorgestern bei mir. Ich habe den beiden Leutnants Urlaub erteilt, sie sind bereits abgereist; Ihrem Korpsbruder habe ich denselben Rat erteilt. Auch Ihnen kann ich nichts anderes sagen. – Sie müssen vergessen, hören Sie! – Ein Opfer ist genug!«
»So klären Sie mich wenigstens auf, Herr Oberst!« drängte ich. »Ich weiß ja nichts und kann nirgends etwas erfahren. Steht das Verschwinden Bohlens in einem Zusammenhang mit Ihrem Befehl?«
»Ja!« sagte der Oberst.
»Was ist aus ihm geworden?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete er. »Und ich fürchte, ich werde es niemals wissen.«
»Sagen Sie mir, was Sie wissen!« bat ich, und ich fühlte, daß in meiner Stimme ein Klang zitterte, der ihn zwingen mußte zu antworten. »Um Gottes willen, sagen Sie mir, was ist aus Bohlen geworden, und weshalb erließen Sie den Befehl?«
Er machte sich los und sagte:
»Donnerwetter, mit Ihnen scheint's wirklich noch schlimmer zu stehen als mit den anderen!«
Er schenkte die beiden Kelche voll und schob mir mein Glas hin.
»Trinken Sie, trinken Sie«, rief er.
Ich goß den Champagner hinunter und beugte mich vor.
»Sagen Sie mal«, fuhr er fort und sah mich scharf an, »waren Sie es nicht, der damals die Gedichte vorlas?«
»Ja«, stammelte ich, »aber ...«
Der Oberst strich seinen Schnauzbart.
»Damals beneidete ich Sie fast«, sagte er nachdenklich; »unsere Fee erlaubte Ihnen, ihr zweimal die Hand zu küssen. – Waren es Ihre eigenen Gedichte? Es kam so was von allen möglichen Blumen drin vor.«
»Ja, ich habe die Gedichte selbst gemacht«, erwiderte ich.
»Es war ein schrecklicher Unsinn!« sagte er wie zu sich selbst. »Entschuldigen Sie«, fuhr er lauter fort, »ich verstehe von Gedichten gar nichts, durchaus gar nichts. Möglich, daß sie auch sehr schön waren. Die Fee fand das ja.«
»Aber, Herr Oberst«, warf ich ein, »was sollen denn jetzt diese Gedichte? Sie wollten ...«
»Ich wollte Ihnen was anderes erzählen, gewiß«, unterbrach er mich. »Aber gerade wegen der Gedichte tue ich das. Man sagt, daß die Leute, die Gedichte machen, alle Träumer seien. – Ich glaube, der arme Kerl, der Bohlen, machte auch insgeheim Gedichte.«
»Was ist also mit Bohlen?« drängte ich.
Er überhörte den Einwurf.
»Und die Träumer«, spann er seinen Gedankengang weiter, »die Träumer, das sind augenscheinlich die, die sie am leichtesten fängt. – Ich will Sie warnen, Herr, so gut ich es vermag.« Er richtete sich auf.
»Hören Sie also!« sagte er sehr ernst. »Heute vor sieben Tagen kam Leutnant Bohlen nicht zum Dienst. Ich schickte in seine Wohnung, er war verschwunden. Wir haben mit Hilfe der Polizei, der Staatsanwaltschaft alle Schritte getan, ohne jeden Erfolg. Und trotz der kurzen Zeit, die inzwischen verflossen ist, bin ich für meine Person von der Fruchtlosigkeit aller weiteren Bemühungen überzeugt. Äußere Gründe sind nicht vorhanden. Bohlen war vermögend, hatte keine Schulden, war gesund und sehr glücklich in seinem Beruf als Reiteroffizier. Hinterlassen hat er nichts als ein kurzes Schreiben an mich – dessen Inhalt ich Ihnen in seinen Einzelheiten nicht mitteilen kann.«
Mich faßte eine grenzenlose Enttäuschung, die mein Gesicht sofort verriet.
»Warten Sie!« sprach der Oberst weiter. »Ich hoffe, daß das, was ich Ihnen sage, genügen wird, Sie wenigstens zu retten. Ich glaube, daß Leutnant Bohlen tot ist, daß er sich in geistiger Umnachtung das Leben genommen hat.«
»Schreibt er das?« warf ich ein.
Der Oberst schüttelte den Kopf.
»Nein!« sagte er. »Kein Wort! Er schreibt nur: Ich verschwinde nun. Ich bin kein Mensch mehr. Ich bin ein Myrtenbaum.«
»Was?« rief ich.
»Ja«, sagte der Oberst, »ein Myrtenbaum! Er glaubt, daß er von der Zauberin – von Frau Emy Steenhop in einen Myrtenbaum verwandelt worden sei.«
»Aber das sind ja dumme Träumereien!« rief ich. Der Oberst richtete wieder seinen forschenden, mitleidigen Blick auf mich.
»Träumereien?« wiederholte er. »Sie nennen es Träumereien. Man kann es auch Wahnsinn nennen. Aber das ist gewiß: Unser armer Kamerad ist daran zugrunde gegangen. Er glaubte sich verzaubert. Waren wir denn nicht alle ein wenig von der schönen Frau verhext? Bin ich alter Esel nicht wie ein Schulbub um sie herumgeschwänzelt? Ich sage Ihnen, daß mich jeden Abend eine maßlose Sehnsucht überfällt, zu ihrer Villa zu gehen, um meinen grauen Schnauzbart auf ihre weiche Haut zu pressen. Und ich sehe es meinen Offizieren an, daß es ihnen nicht anders geht. Der Oberleutnant Graf Arco, den ich vorgestern auf Urlaub sandte, hat mir gestanden, daß er fünf Stunden lang im Mondschein vor ihrem Hause auf und ab gelaufen sei, und ich fürchte; er ist nicht der einzige gewesen. Ich kämpfe mit meinem Galgenhumor meine geheimen Wünsche herunter, bleibe jede Nacht als letzter im Kasino und gebe ein – gutes Beispiel. Ich versichere Sie, so viel Champagner wie in dieser Woche ist bei uns seit Jahren nicht getrunken worden – aber geschmeckt hat er keinem. – Trinken Sie, trinken Sie! Bacchus ist der Feind der Venus.«
Er goß wieder die Gläser voll und fuhr fort:
»Nun sehen Sie, junger Herr, wenn ein so prosaischer Kerl wie ich das Jucken nicht loswerden kann, wenn ein so blasierter Weiberheld wie Arco einsame Mondscheinpromenaden macht, mußte ich da nicht befürchten, daß der Fall Bohlen nicht der einzige bleiben würde? – Und ich danke dafür, mein Offizierskorps in einen Myrtenwald verwandelt zu sehen!«
»Ich danke Ihnen, Herr Oberst!« sagte ich. »Sie haben von Ihrem Standpunkt aus zweifellos richtig gehandelt.«
Er lächelte.
»Sehr liebenswürdig von Ihnen, das anzuerkennen!« spottete er. »Aber Sie würden mich mehr verbinden, wenn Sie meinen Rat befolgen würden. Ich war nun einmal der älteste, gewissermaßen der Führer bei dem Hexenkult in der Koblenzer Straße; nun ist es mir, als ob ich für alle, nicht nur für meine Offiziere, verantwortlich sei. Und ich habe das Gefühl – nichts als ein Gefühl, aber ich kann es nicht loswerden –, als ob noch mehr Unheil von jener schönen Frau ausgehen würde. Nennen Sie mich einen alten Toren, einen Narren, aber versprechen Sie mir, nie wieder jenes Haus zu betreten!« Er sprach so ernst, so eindringlich, daß auch mich plötzlich eine seltsame Angst faßte.
»Ja, Herr Oberst!« sagte ich.
»Das beste ist, Sie verreisen auf ein paar Monate, wie es die anderen getan haben. Arco ist mit Ihrem Korpsbruder zusammen nach Paris gefahren, gehen Sie doch auch dahin! Das wird Sie zerstreuen; Sie werden die Zauberin vergessen.«
Ich erwiderte: »Ja, Herr Oberst!«
»Ihre Hand darauf!« rief er.
Ich streckte ihm die Rechte hin, die er kräftig schüttelte.
»Ich werde sogleich meine Sachen packen und den Mitternachtzug nehmen«, sagte ich fest.
»Recht so!« rief er und schrieb ein paar Worte auf seine Visitenkarte. »Hier der Name des Hotels, in dem Arco und Ihr Freund abgestiegen sind; grüßen Sie beide von mir, amüsieren Sie sich, lumpen Sie meinetwegen ein bißchen, aber kommen Sie mir wieder – ohne dieses – trübsinnige Lächeln!«
Er strich mit seinem Zeigefinger über meine Mundwinkel, als ob er sie glätten wolle.
Ich lief sofort nach Hause, in der festen Absicht, in drei Stunden abzureisen. Meine Koffer standen noch gepackt da, ich nahm einige Sachen heraus und tat andere hinein. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb meinem Vater einen kurzen Brief, in dem ich ihm von meiner Reise Mitteilung machte und ihn bat, mir nach Paris Geld zu senden. Als ich nach einem Umschlag suchte, fiel mein Blick auf ein paar Briefe und Karten, die während meiner Abwesenheit angekommen waren. Ich dachte: Die können liegenbleiben, bis ich von Paris zurück bin. Dann streckte ich doch die Hand aus – und zog sie wieder zurück. »Nein, ich will sie nicht lesen«, sagte ich. Ich nahm eine Münze aus der Tasche und dachte: Ist der Kopf oben, liest du sie. Ich warf das Geldstück auf den Tisch, das Wappen fiel nach oben. – »Also gut«, sagte ich, »ich lese sie nicht.« In demselben Augenblick ärgerte ich mich über diese Dummheiten und griff nach den Briefen. Ein paar Rechnungen, Einladungen, Geschäftsempfehlungen – dann ein violetter Umschlag, der in großen, steilen Buchstaben meinen Namen trug. Ich wußte sogleich: Das war es, warum ich die Briefe nicht anschauen wollte. Ich wog den Brief prüfend in der Hand, aber ich fühlte wohl, daß ich ihn lesen mußte. Ich hatte nie die Schrift gesehen, und ich wußte doch, daß es die ihre war. Plötzlich sagte ich halblaut:
» Jetzt fängt es an.«
Ich dachte mir nichts dabei, ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt anfangen sollte. Aber ich fürchtete mich. Ich zerriß den Umschlag und las:
»Mein Freund! Vergessen Sie nicht, die Orangenblüten heute abend zu bringen.
Emy Steenhop.«
Der Brief war vor zehn Tagen geschrieben, an dem Tage, als ich nach Hause gefahren war. Ich hatte am Abend vorher ihr erzählt, daß ich in dem Treibhaus eines Gärtners blühende Orangenbäume gesehen hätte, und sie hatte darauf den Wunsch ausgesprochen, Blüten zu haben. Gleich am anderen Morgen, vor meiner Abreise, war ich zu dem Gärtner gegangen und hatte ihn beauftragt, ihr die Blüten zu senden.
Ich las die Zeilen ganz ruhig, dann steckte ich den Brief in die Tasche. Ich zerriß den Brief an meinen Vater.
Mit keinem Gedanken dachte ich mehr an das Versprechen, das ich dem Obersten gab.
Ich sah auf meine Uhr – halb zehn; das war die Zeit, zu der sie ihren Hofstaat zu empfangen pflegte. Ich ließ einen Wagen holen und zog mich um.
Ich fuhr zu dem Gärtner und ließ mir Blüten abschneiden. Und dann, endlich, war ich vor ihrer Villa.
Ich ließ mich melden, und das Mädchen führte mich in den kleinen Saal. Ich setzte mich auf den Diwan und streichelte das weiche Guanakofell, das darüber lag.
Dann kam sie herein, in einem langen, gelbseidenen Teekleid. Die schwarzen Haare fielen von dem glatten Scheitel über die Ohren, drehten sich dort zu leichten Krönchen, so wie sie Lucas Cranachs Frauen tragen. Sie war ein wenig bleich, ein violetter Schimmer leuchtete aus ihren Augen.
Das ist, weil sie Gelb trägt, dachte ich.
»Ich war verreist«, sagte ich, »zu dem Geburtstag meiner Mutter. Ich bin erst heute abend vor einigen Stunden zurückgekommen.«
Sie stutzte einen Augenblick.
»Erst heute abend?« fragte sie. »So wissen Sie nicht –« Sie unterbrach sich: »Aber natürlich wissen Sie!« lächelte sie. »In den paar Stunden hat man Ihnen längst alles erzählt!«
Ich schwieg und drehte meine Blüten.
»Natürlich hat man!« fuhr sie fort. »Und Sie haben doch den Weg hierhergefunden? Ich danke Ihnen.«
Sie streckte mir die Hand hin, die ich küßte.
Da sagte sie ganz leise: »Ich wußte ja, daß Sie kommen würden.«
Ich richtete mich auf.
»Gnädige Frau!« sagte ich. »Ich fand bei meiner Rückkehr Ihren Brief vor. Ich habe mich beeilt, Ihnen die Blüten zu bringen.«
Sie lächelte.
»Lügen Sie doch nicht!« rief sie, »Sie wissen, daß ich vor zehn Tagen schon den Brief schrieb. Und sie sandten mir ja auch gleich die Blüten.«
Sie nahm die Zweige aus meiner Hand und führte sie zum Gesicht.
»Orangenblüten – Orangenblüten«, sagte sie langsam, »wie herrlich sie duften!«
Sie sah mich fest an und fuhr fort:
»Sie brauchten keinen Vorwand, um hierherzukommen. – Sie kamen, weil Sie mußten, nicht wahr?«
Ich verbeugte mich.
»Setzen Sie sich, mein Freund«, sagte Frau Emy Steenhop, »wir wollen Tee trinken!«
Dann klingelte sie.
Glauben Sie mir, Herr Sanitätsrat! Ich könnte jeden der vielen Abende, die ich mit der Dame verbrachte, Ihnen eingehend erzählen, Wort für Wort jede unserer Unterhaltungen wiedergeben. Wie in Erz ist das alles in mein Gedächtnis eingemeißelt, ich würde nicht eine Handbewegung, nicht das leichte Spiel ihrer Augenbrauen vergessen. – Ich will Einzelheiten herausgreifen, die für das Bild, das Sie von mir wünschen, wesentlich scheinen.
Einmal sagte Frau Emy Steenhop:
»Wissen Sie, was aus Harry Bohlen geworden ist?«
Ich erwiderte: »Ich weiß, was die Leute sagen.«
Sie fragte: »Glauben Sie, daß ich ihn in einen Myrtenbaum verwandelt habe?«
Ich ergriff ihre Hand, um sie zu küssen:
»Wenn Sie das wünschen, schöne Frau«, lachte ich, »will ich es gern glauben.«
Aber sie entzog mir die Hand. Sie sprach – und aus ihrer Stimme klang eine solche Gewißheit, daß ich zitterte: » Ich glaube es!«
Sie hatte den Wunsch ausgesprochen, daß ich ihr jeden Abend Orangenblüten bringen möchte. Als ich ihr eines Abends wieder die weißen Blüten überreichte, flüsterte sie:
»Astolf.«
Dann fuhr sie lauter fort:
»Ja, ich werde Sie Astolf nennen. Und wenn Sie wollen, mögen Sie Alcina zu mir sagen.«
– Ich weiß, verehrter Herr Sanitätsrat, wie wenig Muße unsere Zeit hat, sich mit alten Sagen und Geschichten zu beschäftigen. So werden Ihnen voraussichtlich diese beiden Namen gar nichts sagen, während sie mir das nahe Bevorstehen eines entsetzlichen und doch süßen Wunders im Augenblick offenbarten. Wenn Sie Ariost kennen würden oder sonst eine Heldengeschichte des Cinquecento gelesen hätten, so würde Ihnen die schöne Fee Alcina wie mir eine alte Bekannte sein. Sie fing Astolf von Engelland in ihren Netzen, den gewaltigen Rüdiger, den Haimons-Sohn Reinold von Montalban, den Bayardritter und viele andere Helden und Paladine. Und sie pflegte ihre Geliebten, wenn sie ihrer überdrüssig war, in Bäume zu verwandeln ...
Sie legte mir beide Hände auf die Schultern und sah mich an:
»Wenn ich Alcina wäre«, sagte sie, »möchtest du ihr Astolf sein?«
Ich sprach nichts, aber meine Augen antworteten ihr. Und dann sagte sie:
»Komm!«
*
Sie sind Psychiater, Herr Sanitätsrat, und ich weiß, wie anerkannt Sie sind. Ich habe Ihren Namen oft gelesen, man sagt Ihnen nach, daß Sie durchaus neue Gedanken entwickelt hätten. Und weil ich nun glaube, daß nie ein Mensch allein sogenannte neue Gedanken hat, sondern daß diese zu gleicher Zeit in den verschiedensten Hirnen in Erscheinung treten, so habe ich eine Hoffnung, daß Ihre neuen Gedanken in bezug auf die menschliche Psyche sich vielleicht mit den meinen decken könnten. Eben dies Gefühl läßt mich Ihnen gegenüber ein so unbegrenztes Vertrauen fassen.
Der Gedanke, nicht wahr, das ist das Primäre, ja, das ist das einzige, das wirklich ist. Es ist ein knabenhafter Unfug, die Materie als etwas Wirkliches aufzufassen. Das, was ich sehe, fasse und greife, kann ich schon vermöge der unvollkommensten Hilfsmittel als ganz etwas anderes erkennen, als ich es mit meinen paar Sinnen auffasse. Ein Wassertropfen scheint meinen erbärmlichen Menschenaugen eine kleine, klare, durchsichtige Kugel; ein Mikroskop zwar, wie es die Kinder als Spielzeug benutzen, lehrt mich, daß er ein Tummelplatz der wildesten Infusorienschlachten ist. Das ist eine höhere Einsicht – aber nicht die höchste; denn zweifellos wird man in hundert Jahren selbst über unsere glänzendsten wissenschaftlichen Hilfsmittel ebenso lächeln, wie wir es über die Instrumente Äskulaps tun. Es ist also die Erkenntnis, die ich den wunderbarsten Hilfsmitteln verdanke, ebensowenig wirklich wie die meiner armseligen Sinne. Wenn ich auch die Materie fassen mag, sie ist immer anders als ich sie begreife. Aber ich kann nicht nur das Wesen der Materie niemals völlig erkennen, sondern sie hat überhaupt kein Sein. Spritze ich den Wassertropfen gegen den heißen Ofen, so ist er im Augenblick verdampft, werfe ich ein Stück Zucker in den Tee, schmilzt er. Zerschlage ich dann die Schale, aus der ich trinke, so habe ich Scherben, aber keine Tasse mehr. Wenn aber ein Sein im Handumdrehen in ein Nichtsein verwandelt werden kann, so lohnt es sich nicht, es überhaupt als ein Sein anzusprechen. Das Nichtsein, der Tod, ist für alle Materie das eigentliche Wesen, das Leben ist nur eine Vereinigung dieses Wesens für eine unendlich kleine Zeitspanne. – Der Gedanke aber des Wassertropfens, des Stückchens Zucker bleibt unvergänglich, er kann nie zerbrechen, verdampfen, zerschmelzen. Ist dieser Gedanke also nicht mit viel größerem Rechte als Wirklichkeit anzusprechen als die flüchtige Materie?
Nun sind wir Menschen, Herr Sanitätsrat, ebensosehr Materie wie alles um uns; jeder Chemiker kann uns mit Leichtigkeit nachweisen, aus wieviel Prozenten Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff wir bestehen. Wenn aber in uns der Gedanke sich offenbart – welches Recht haben wir, anzunehmen, daß er sich in anderen Materien nicht offenbaren sollte?
Ich gebrauche stets das Wort »Gedanken«, Herr Sanitätsrat, nur aus dem Grunde, weil dieses Wort mir persönlich für den Begriff, den ich im Sinne habe, am besten liegt. Wie die verschiedenen Sprachen für einen Begriff die verschiedensten Worte haben, wie der Italiener das Ding, mit dem wir sprechen, »bocca« nennt, während der Engländer »mouth«, der Franzose »bouche«, der Deutsche »Mund« sagt, so haben auch die verschiedenen Wissenschaften und Künste für denselben Begriff die verschiedensten Worte. Was ich »Gedanke« nenne, möchte der Theosoph mit »Gott« bezeichnen, der Mystiker mit »See«, der Arzt mit »Bewußtsein«; Sie, Herr Sanitätsrat, würden vielleicht das Wort »Psyche« wählen. Aber Sie werden mit mir darin übereinstimmen, daß dieser Begriff, wie man ihn auch nennen möge, das Ursprüngliche und zugleich einzig Wirkliche ist.
Wenn nun dieser losgelöste Begriff, der alle die Eigenschaften hat, die die Theologen dem sogenannten persönlichen Gott beilegen, der also unendlich, ewig, unbegrenzt ist, in unserm Hirn sich offenbart, warum sollte es ihm nicht freistehen, ebensogut in allen anderen Dingen in Erscheinung zu treten? Ich kann mir wenigstens angenehmere Wohnplätze denken als die Hirne so mancher Menschen.
Das alles ist durchaus nichts Neues; haben doch Milliarden von Menschen zu allen Zeiten daran geglaubt – oder glauben heute noch daran –, daß die Seele sich auch in Tieren zeigt. Die Lehre Buddhas, zum Beispiel, hat ja die Theorie der Seelenwanderung aufgenommen. Was hindert uns, einen Schritt weiterzugehen und Quellen, Bäumen, Felsen Seelen beizulegen, wie man es – vielleicht nur aus poetisch-ästhetischen Gründen – in Hellas tat? Ja, ich glaube, daß die Zeit gekommen ist, die den menschlichen Verstand so weit entwickelt hat, daß er fähig ist, die Seelen von manchen organischen Wesen zu erkennen.
Ich sprach Ihnen von meinen Gedichten, die ich einmal der Dame vorgelesen habe und die der Oberst so schrecklichen Unsinn nannte. Das mögen sie sein – ich habe kein Urteil darüber. Es ist auch weiter nichts als ein stammelnder Versuch, in menschlicher Sprache die Seelen einiger Blumen wiederzugeben.
Woher kommt es, daß ein Eukalyptusbaum den Gedanken an nackte, sich sehnend ausbreitende Frauenarme erweckt? Daß Asphodelos uns unwillkürlich an den Tod mahnt? Daß die Glycene uns das Bild eines blonden Pfarrerstöchterleins vorzaubert, die Orchidee aber uns an Hexensabbat und schwarze Messen erinnert?
Deshalb – weil der Gedanke daran in diesen Blumen und Bäumen lebt.
Glauben Sie, daß es Zufall ist, daß bei allen Völkern der Welt die Rose als das Symbol der Liebe, das Veilchen als das der Bescheidenheit gilt? Es gibt Hunderte von kleinen duftigen Blumen, die ebenso versteckt und verborgen blühen wie das Veilchen, keine von ihnen allen übt auf uns eine ähnliche Wirkung aus. Brechen wir aber ein Veilchen, so denken wir instinktiv: Bescheidenheit. Dabei geht dieses seltsame Gefühl nicht einmal von dem für unsere Sinne Charakteristischsten der kleinen Blume aus, das heißt von ihrem Duft. Nehmen Sie das Parfüm »Vera Violetta«, dessen Geruch so täuschend ist, daß Sie im Dunkeln ihn von dem Dufte eines großen Veilchenstraußes nicht zu unterscheiden vermögen, so werden Sie niemals dieselbe Empfindung haben.
Ebenso hat das Gefühl, das uns in der Nähe eines blühenden Kastanienbaums gegen unseren Willen erfaßt, der Gedanke der ewig siegenden Männlichkeit, auch nicht das geringste mit dem zu tun, was unsere Sinne zuerst fesselt: dem mächtigen Stamm, den breiten Blättern, den tausend leuchtenden Blütenkerzen. Erst durch Überlegung kommen wir zu der Erkenntnis, daß es hier der kaum bemerkbare Duft ist, der uns den Gedanken, die Seele des Baumes, offenbart.
Augenscheinlich kann der Begriff, den ich »Gedanken« nenne, alle Formen und Gestalten annehmen; die Tatsache allein, daß ich oder ein anderer das denken kann, ist schon ein vollgültiger Beweis dafür.
Denn da der Gedanke überhaupt keine Grenzen kennt, so ist die Materie für ihn nicht die geringste Schranke. Kein einsichtiger Mensch kann sich heute den Wahrheiten – die freilich relativ sind wie alle anderen – der monistischen Weltauffassung entziehen, und die lehrt uns, daß wir Menschen als Materie uns in nichts von jeder anderen Materie unterscheiden. Wenn ich das zugeben muß, und auf der anderen Seite des »Gedankens« Sein – in seinem eigentlichen gewaltigen Sinne – mich in jedem Augenblicke zur Anerkennung zwingt, so kann ich nur zu dem einen Schluß kommen, den übrigens tausend Beispiele bestätigen, daß der »Gedanke« nicht nur den Menschen, sondern auch jede andere Materie beliebig zu durchdringen vermag, warum also nicht Stamm, Blätter und Blüten eines Orangenbaumes?
Für die Faust-Natur des Philosophen besteht die Glaubenslehre, die die Kulturvölker angenommen haben, nur in ihren Anfangsworten: »Im Anfang war das Wort.« Und sie stocken alle und werden nie über das geheimnisvolle »Logos« hinauskommen, bis es sich eines Tages in einem Kopfe in seiner ganzen Größe selbst offenbart. Denn da das menschliche Hirn von aller Materie auf dem toten Sternchen, das wir Erde nennen, nun einmal das Vollkommenste ist, so wird für uns diese Offenbarung wohl dort zu Erscheinung werden.
Aber das ist das Falsche, daß alle die Menschen, die, wie die Mystiker, an eine solche Offenbarung des »Logos« glaubten und sich mit ihr beschäftigten, stets annahmen, daß sie plötzlich, wie ein Blitz, käme. Sie wird kommen, wie sie kam, langsam, Schrittchen für Schrittchen, wie sich die Sonne aus dem Nebelfleck, wie sich der Mensch aus der Amoeba primitiva entwickelte. Sie ist unendlich und nie vollendet, darum wird sie auch nie vollkommen sein.
Es vergeht keine Stunde, keine Sekunde, in der der Gedanke sich nicht offenbart, größer, herrlicher als vorher. Immer, immer mehr erkennen wir diesen Begriff, der alles ist.
Und eine solche größere Erkenntnis ist es, von der ich glaube, daß sie in meinem Hirn sich gespiegelt hat. Oh, ich bilde mir nicht ein, der einzige zu sein; ich glaube, daß nie ein Gedanke ein Hirn allein befruchtet. Aber in wenigen nur mag er Blüten treiben.
Eines Nachts hatte die Frau, die ich Alcina nannte, das Lager, auf dem wir ruhten, ganz mit Orangenzweigen bedeckt. Wenn sie mich umschlang, zitterten die feinen Nasenflügel, die sie eng an meinen Hals preßte.
»Mein Freund«, sagte sie, »du duftest wie die Blüten!«
Ich lachte und glaubte, daß sie scherze. – Aber ich habe mich später überzeugt, daß sie recht hatte.
*
Meine Hauswirtin kam früh in mein Zimmer. Sie schnupperte in der Luft herum und sagte:
»Oh, wie gut das riecht! Haben Sie wieder Orangenzweige da?«
Aber ich hatte seit Tagen keine Blüten in meinem Zimmer gehabt.
Ich sagte mir: Beide können sich täuschen, die menschliche Nase ist ein so schlecht entwickeltes Organ.
Aber mein Jagdhund wird sich nicht täuschen lassen: Seine Nase ist unfehlbar.
So machte ich einen Versuch. Ich ließ meinen Hund in Wohnung und Garten oft einen Orangenzweig apportieren; ich versteckte ihn dann sorgfältig, lehrte ihn, ihn zu bringen, wenn ich rief: »Such die Blüten!« Stets brachte er den Zweig nach kurzer Zeit aus dem verstecktesten Platz zurück.
Ich wartete dann einige Tage, während der ich keine Blüten in meiner Wohnung hatte. Eines Morgens nahm ich das Tier mit in die Schwimmanstalt. Als ich aus dem Wasser stieg, rief ich:
»Ali! Apport! Such die Blüten!«
Der Jagdhund hob den Kopf hoch, schnupperte ein paarmal in der Luft herum und kam dann ohne Bedenken auf mich zu. Ich ging in meine Badezelle und wies ihm die Kleider, aber der Jagdhund beroch sie kaum, er beschnupperte mich immer wieder: Es war mein Fleisch, an dem er den Duft roch.
Nun, Herr Sanitätsrat, wenn das dem Hund mit seinem hochentwickelten Geruch passierte, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn Sie denselben Irrtum hegten, als Sie bei mir Zweige vermuteten. Ich hörte, wie Sie, nachdem Sie mich gestern abend verließen, dem Diener auf dem Gange sagten, er möge, wenn ich im Garten spazierenginge, sorgfältig mein Zimmer durchsuchen und die Orangenzweige entfernen. Ich nehme Ihnen das nicht übel; Sie glaubten, ich habe solche Blüten bei mir versteckt, und hielten es für Ihre Pflicht, alles das fernzuhalten, was mich an »meine fixe Idee« erinnere. Herr Sanitätsrat, Sie hätten Ihrem Diener die Mühe sparen können: Er kann stundenlang täglich suchen und wird nicht eine kleine Blüte finden. Aber wenn Sie wieder mich besuchen, so werden Sie wieder den Duft riechen, der von meinem Fleische ausgeht.
Einmal träumte mir, ich ging durch einen weiten Garten zur Mittagszeit. An dem runden Springbrunnen vorbei, durch eine Pergola mit zerbrochenen Marmorsäulen. Und über lange, glatte Rasenflächen. Ich sah einen Baum, der funkelte über und über von glutroten Blutorangen. Da wußte ich, daß ich dieser Baum war.
Der leichte Wind spielte in meinen Blättern, und in unendlicher Lust dehnte ich mich und streckte meine vollen Äste. Über den weißen Kiesweg kam eine Frau gegangen, in weitem gelbem Gewande. Aus tief violetten Augen streichelten mich ihre Blicke.
Da rauschte ich aus den dichten Zweigen:
»Brich dir von meinen Früchten, Alcina!«
Sie verstand diese Sprache und hob den weißen Arm. Brach einen Zweig ab mit fünf, sechs goldenen Früchten.
Das war ein leiser, süßer Schmerz; ich erwachte davon. Ich sah sie neben mir kauern, auf dem weichen gelbweißen Felle. So seltsam starrten ihre Augen mich an.
»Was tust du?« fragte ich.
»Still!« flüsterte sie. »Ich lausche deinen Träumen.«
*
An einem Nachmittag waren wir über den Rhein gefahren, vom Drachenfels hinab zum Kloster Heisterbach gegangen. Hinter den efeuumrankten Ruinen hatte sie sich aufs Gras geworfen. Ich saß neben ihr, sog in vollen Zügen die linde Luft ein, hob die Brust und streckte weit die Arme aus.
»Ja«, sagte sie und deckte die Augen mit den tiefen Wimpern, »ja, breite deine Zweige aus! Wie kühl ruht sich's in deinem Schatten!«
Dann erzählte sie ...
Oh, Nächte hindurch erzählte sie mir. Uralte Sagen, Märchen und Geschichten. Immer schloß sie die Augen dabei. Wenig nur öffneten sich ihre feinen Lippen, wie ein Klingen von silbernen Glöckchen tropften ihr die Worte vom Munde:
»›Du raubtest meinen Gürtel‹ sagte Flordelis zu ihrem Ritter; ›so bring mir einen anderen, der meiner wert ist!‹
Da sattelte der blonde Gryph sein Roß und jagte durch alle Lande der Welt, um seiner Herrin einen Gürtel zu schaffen. Schlug sich mit Riesen und Rittern, mit Hexen und Zauberern und erkämpfte die herrlichsten Gürtel. Aber in den Staub warf er sie, oder Bettlern in den Schoß, und rief, daß es armselige Lappen seien und nicht wert, seiner Dame Lenden zu schmücken. Und als er der Venus eigenen Gürtel dem gewaltigen Rodomont abgerungen, riß er ihn in Fetzen und schwur, daß er einen Gürtel ihr schaffen wolle, wie ihn nie eine Göttin getragen. Den Zauberer Atlas erschlug er und raubte sein Flügelroß: Durch Sturm und Wind ritt er in die Luft und riß mit kecker Hand die Milchstraße herab vom Himmel.
Zu der Herrin kam er zurück und küßte ihren weißen Fuß. Um ihre Hüften schlang er den Gürtel, auf dem als Geschmeide viel tausend Sterne funkelten ...«
*
»Lies mir das vor, was du über die Orchideen schriebst!« sagte sie.
Da las ich ihr:
»Als der Teufel ein Weib ward,
Als sich Lilith
Die schwarzen Haare zum schweren Knoten schlang
Und die bleichen Züge
Mit Botticellis krausen Gedanken
Rings umrahmte,
Als sie leise lächelnd
Um alle die schmalen Finger
Goldreifen zog mit bunten Steinen,
Als sie Villiers las
Und Huysmans liebte,
Als sie Maeterlincks Schweigen verstand
Und die Seele badete
In Gabriel d'Annunzios Farben,
Lachte sie einmal ...
– –
Und wie sie lachte,
Sprang ihr die kleine Fürstin der Schlangen
Heraus aus dem Mund,
Da schlug die schönste der Teufelinnen
Nach der Schlange,
Schlug die Königin der Schlangen
Mit beringtem Finger,
Daß sie sich wand und zischte,
Zischte, zischte
Und Geifer spritzte.
Aber Lilith sammelte die Tropfen
In der schweren Kupfervase;
Feuchte Erde,
Schwarze, feuchte Erde
Streute sie darauf.
Leichthin kosten ihre großen Hände
Rund herum
Diese schwere Kupfervase,
Leichthin sangen ihre bleichen Lippen
Ihren alten Fluch ...
Wie ein Kinderreim erklang ihr Fluchen,
Weich und müde ...
Müde wie die Küsse,
Die vom Munde
Ihr die feuchte Erde trank.
Aber Leben hob sich in der Vase,
Und gelockt von ihren müden Küssen,
Und gelockt von diesen süßen Klängen,
Krochen langsam aus der schwarzen Erde
Orchideen ...
– –
Wenn die Liebste
Vor dem Spiegel ihre bleichen Züge
Rings umrahmt von Botticellis Nattern,
Kriechen seitwärts aus der Kupfervase
Orchideen ...
Teufelsblumen, die die alte Erde,
Die durch Liliths Fluch mit Schlangengeifer
Sich vermählt, zum Lichte hat geboren,
Orchideen ...
Teufelsblumen.«
»Das ist schön«, sagte Alcina.
*
Ja, Herr Sanitätsrat, so war unser Leben: ein Märchen, aus Sonnenstrahlen gewoben. Eine verlorene Vergangenheit atmeten wir ein; eine nie geahnte Zukunft wuchs aus unseren Küssen.
Und immer klarer, o kristallklar wurden die Harmonien unserer Träume. Einmal unterbrach sie mich mitten in einem Liede.
Sie sagte: – »Schweige!« und preßte ihr Gesicht eng an meine Brust. Ich fühlte, wie die feinen Nüstern auf meinem Fleische zitterten – minutenlang.
Dann hob sie den Kopf und sagte:
»Du brauchst nicht zu sprechen; es duften deine Gedanken.«
Sie schloß die Augen – und langsam sprach sie meine Verse zu Ende ...
Oder sie nahm meinen Kopf eng in ihren Arm, berührte die Schläfen mit den schmalen Fingern.
Dann fühlte ich, wie ihre Wünsche in mich hinüberglitten, schmeichelnd Besitz nahmen von meiner Seele.
Wie eine süße Musik spielte es durch meine Schläfen, wie ein Sang von tanzenden Sonnenstrahlen:
Wo die grünen Flächen sich dehnen, wo über schneeige Marmorschwellen kühle Bergwasser springen, wo sich große Falter zwischen Magnolienblüten wiegen und weiße Pfauen einsame Träume sinnen, da steht ein Baum.
Weit streckt er ringsum seine-Äste aus, und ein Duften von Hochzeit und Liebe erfüllt um ihn die Luft. Weiße Blüten heben sich aus den Blättern, und dazwischen funkeln die goldenen Früchte.
Eine Fee aber ruht in dem kühlen Schatten, sie erzählt Märchen dem Baume, der ihr der Geliebte ist.
Sie spricht, und er rauscht in den Winden ihr seinen Duft zu.
So plaudern die beiden.
Es wuchs in mir die Erkenntnis, langsam, allmählich, wie alle Offenbarung. So harmonisch, daß ich nicht einen einzigen Markstein bezeichnen könnte. Die paar Einzelheiten, die ich Ihnen wiedergegeben habe, Herr Sanitätsrat, habe ich aus Tausenden herausgegriffen. Das Wunder begann, als ich zum ersten Male diese Frau sah – aber vielleicht begann es weit früher. Muß ich nicht meine Gedanken, die zum Beispiel, die ich in den Gedichten zum Ausdruck brachte, schon als einen ersten leisen Anfang ansprechen?
Vollendet aber wird das Wunder sein, wenn ich da draußen in der Sonne stehe, weiße Blüten und goldene Früchte trage.
Dazwischen die Entwicklung: ruhig fortschreitend, stark selbstbewußt, ohne einen Widerstand zu kennen. Nicht nur der Seele, auch des Leibes. Sagte ich Ihnen nicht schon, daß all mein Fleisch mit dem süßen Duft getränkt sei? – Überzeugen Sie sich doch, Herr Sanitätsrat!
*
Dann kamen die letzten Nächte. Einmal sagte sie mir:
»Nun muß ich dich bald lassen.«
Da erschrak ich nicht. Jede Sekunde bei ihr war eine Ewigkeit, noch durften meine glücklichen Arme sie umfangen.
Ich nickte, dann fuhr sie fort:
»Du weißt, was dann kommen wird, Astolf?«
Ich nickte wieder und fragte:
»Wohin wirst du gehen?«
Da fielen zwei Tränen über ihre Wangen. Sie richtete sich auf, und ihr Auge leuchtete wie ein einsames Nachtgestirn auf vereister Steppe.
»Übers Meer«, sagte sie, »dahin, woher ich kam. – Aber ich will dir schreiben. – Und dann, später, wenn du draußen blühst, wenn die leichten Winde in deinen Zweigen spielen, dann, später, komme ich wieder. Komme zu dir, Liebster, und ruhe in deinem Schatten. Ruhe bei dir, Liebster, und träume mit dir unsere süßesten Träume.«
»Liebster«, sagte sie, »Liebster!« Und wie um Stamm und Zweige sich des Efeus grüne Ranken schmiegen, so umschlang sie mich – so.
*
Was dann kam, wissen Sie, Herr Sanitätsrat. Als ich eines Abends zu ihrer Villa kam, schellte ich vergebens. Sie war fort, ihre Villa geräumt. Ich setzte alles in Bewegung, rannte tagelang wie ein Narr umher. Ich machte lächerliche Torenstreiche, aber ich versichere Sie, Herr Sanitätsrat, daß das alles nur auf die Rechnung des Verliebten zu setzen ist, dem seine Schöne plötzlich wie mit einem Zauberschlag entrückt war.
Meine Korpsbrüder kümmerten sich wieder um mich, mehr als mir lieb war. Sie waren es, die meinen Eltern telegrafierten. Dann kam der Wutausbruch, das, was Sie die »Katastrophe« nennen, und was doch eine so leichterklärliche Selbstverständlichkeit war. Meine Freunde, die nach meinen Torheiten mich keinen Augenblick mehr allein ließen, hatten bemerkt, daß ich stets auf den Briefträger lauerte. Und als der Brief kam, ihr Brief, nahmen sie ihn auf der Straße dem Boten ab. Heute weiß ich sehr wohl, daß sie eine gute Absicht leitete, daß sie eine neue Aufregung mir fernhalten wollten. Aber in dem Augenblick, als ich das vom Fenster aus sah, wurde mir rot vor den Augen; eine Entweihung schien es mir, daß sie mit ihren Händen das Papier berührten, daß ihre Augen die Schrift lesen wollten, die sie geschrieben. Ich riß den scharf geschliffenen Schläger von der Wand und eilte auf die Straße. Ich rief ihnen zu, mir den Brief herauszugeben; als sie das weigerten, schlug ich dem, der ihn hielt, mit der Waffe ins Gesicht. Das Blut spritzte, befleckte den Brief, den ich ihm entriß. Ich sprang auf mein Zimmer, verriegelte mich und las die Zeilen.
Sie schrieb:
»Wenn du mich liebst, so bringst du es zu Ende. – Oh, ich werde kommen, zu dir kommen, Liebster! Werde ruhen in deinem kühlen Schatten und dir süße Sagen erzählen.
Alcina.«
Nun bin ich fertig, Herr Sanitätsrat. Mit List brachte man mich hierher, aber jetzt danke ich dem Schicksal, das mich hierhin führte. Die Aufregungen sind vorüber, in dieser wunderbaren Ruhe habe ich meinen Frieden wiedergefunden. Ich sitze in dem süßen Dufte, der von mir ausgeht, und fühle, weiß, daß ich es zu Ende bringe. Schon wird mir das Schreiben schwer, Herr Sanitätsrat, die Finger wollen nicht mehr zusammenhalten, sie spreizen sich, streben auseinander wie die Zweige.
Ihre Anstalt liegt in einem weiten Parke; ich bin heute morgen darin gewandelt, er ist so groß und schön. Ich weiß, Herr Sanitätsrat, meine Worte haben Sie überzeugt, oh, sie haben es getan! Wenn also die Stunde kommt, die so nahe ist, so versuchen Sie nicht, die Erfüllung zu hemmen. Dort hinter der großen Wiese werde ich stehen, wo die Kaskaden plätschern. Ich weiß, Sie werden mich pflegen lassen, Herr Sanitätsrat, der Gärtner vom Bonner Talweg versteht sich ja auf Orangenbäume, er wird Ihnen Anweisungen geben. Denn ich will ja nicht verkümmern, ich will wachsen und blühen, damit sie sich freue an meiner Pracht.
Sie wird schreiben, Herr Sanitätsrat, Sie weiden von ihr hören ...
Und noch eins: In jedem Sommer, wenn meine Krone funkelt von tausend goldenen Früchten, dann wollen Sie die schönsten brechen und in ein Körbchen legen. Das senden Sie ihr.
Ein Zettelchen aber soll man hineintun mit den süßen Worten, die ich nächtens einmal auf den Straßen Granadas hörte:
»Liebste, nimm die Blutorange,
Die ich still im Garten brach.
Liebste, nimm die Blutorange!
Doch nicht schneid sie mit dem Messer,
Denn du wirst mein Herz zerschneiden
Mitten in der Blutorange!«
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